
Foto: H.S.
06.12.2025 - von Hartmut Jeromin
Bei schönstem Spätherbstwetter wurde ich zu einer Land-Fahrt eingeladen. Los ging es. Überall fiel mir an der Strecke was ein, von „früher“: Hier gab es Kiebitze im Frühjahr, hier wurden wir von der Dorffeuerwehr nach Hause geschickt weil wir mitten im Erntesommer ein Lagerfeuer abbrannten, hier gar war ich etliche Jahre Lehrling, und hier… und noch hier… das nahm gar kein Ende.
Das Ziel aber, eine frühere Kreisstadt, verleitete mich zum Zählen: Ich kam auf über 10 Geschichten beim Bummel durch die Gassen. Geschichten, die sich in meinem Gedächtnis eingenistet hatten. Mein Reisepartner war sehr geduldig bei meinen Ausbrüchen in die Vergangenheit. Einige Gebäude und Firmennamen sind inzwischen literaturbekannt: Papenbrock, Opitz, Domplatz, Parum… Andere Orte sind für immer verschwunden. Kein Bäcker Agatz oder Gierhahn, keine Schnapsfabrik Winkelhausen, Konditorei Zuch, Puppenschulz, Schlachthof, Bruchhäuser und so fort. Auch den Lehrbetrieb Schultz gibt es nicht mehr. Aber die Grundstruktur stimmt schon noch.
Das ehemalige, 600 ha-grosse Volkseigene Gut gibt es auch nicht mehr, obwohl die Wirtschaftsgebäude zu sehen sind. Die dazugehörige Dorfstrasse lebt aber noch. Mehrmals täglich gingen die Gutsarbeiter auf den Hof zu ihren Gewerken oder vom Hof nach Hause. Nur manche gingen zunächst in die Betriebsküche. Es gab Saatzüchter, Landarbeiter, Traktoristen, Kutscher, Schlosser, Schmiede, Stellmacher, Schäfer, Pferdemeister, Melker, Sattler, Imker, Gärtner, Schäfer. Natürlich einen Betriebsleiter und im Büro Rechner und Schreiber, gar einen Normer. Jedes Gewerk hatte Lehrlinge und demzufolge auch Lehrmeister. Dazu ein Lehrlingsheim mit Heimleiter. Zur Kartoffelernte kamen Saisonkräfte aus fernen Gegenden, auch aus einem Gefängnis. Zum Dorf gehörte eine Grundschule, eine Bürgermeisterei, ein Dorfkonsum mit angeschlossener Kneipe. Natürlich auch eine Feuerwehr. Und ein Sportplatz. Und natürlich die Kulturbaracke mit Theke und Bühne. Mit dazugehörigen Festlichkeiten zu entsprechenden Anlässen. Höhepunkt im Wirtschaftsjahr war jeweils der Betriebsausflug mit mehreren Bussen. Und auch die Deputatausgabe in Naturalien zum Jahresende. Insgesamt ein sozialer Kosmos. Als Arbeitgeber, Lern- und Lebensstätte. Und mit Produkten.
Alles Geschichte, alles über ein halbes Jahrhundert her. Selbst die Ausstellunghalle für Landwirtschaftsschauen wird dafür nicht mehr genutzt. 15 km außerhalb aber ein Gelände der MELA, gut erkennbar an den riesigen Landmaschinen. Landwirtschaft ist zur Agrarindustrie geworden. Und was nicht aufgegessen oder aufgefressen wird landet im Biogas-Reaktor. Alles andere im Supermarkt…
Gleichzeitig aber lese ich Fritz Reuter: Der war ein Urdemokrat. Er schrieb über die misslichen Lebensumstände (Kein Hüsung), über Freud und Leid des Land-und Kleinstadtlebens vor 150 Jahren und in seiner „Urgeschicht Meckelnborgs“ gar über die sozialen Fragen in sehr langen Zeitläufen. Äußerst geschickt tarnt er seine Kritik der sozialen Ungleichheit mit Hilfe der biblischen Geschichte. Die Ungleichheit der Besitzstände, die Vorrechte des Adels, die Ungebildetheit der Bauern, die Unbehaustheit des Plebs, alles wird auf seiner Bühne vorgeführt. Der jeweilige Landtagsbeschluss lautete zwar immer – „Das bleibt alles so, als das gewesen ist“- was ich aber heute nicht mehr bestätigen kann. Denn in den vergangenen 70 Jahren hat sich doch sehr viel geändert! Schlösser und Katen stehen noch vielerorts herum und in Basedow und Ulrichshusen sind auch schon wieder die Wohnvillen der Jetztzeit zu entdecken. Die Geschichte wird sich doch nicht etwa nur im Kreis drehen, wenn auch auf Spiralbahnen - das fragt sich wieder Hartmut Jeromin beim heimwärts Schauen im Dezember 2025!
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